Zines, das bessere Instagram?

Zines, das ist künstlerische Selbstermächtigung in selbstgemachten Heften. In dem Zine-Shop Mount Zine findet man auf kleinstem Raum kuriose Geschichten von Tokyotern. Rennaissance Girls, Bubble-Economy, Sento Life, you name it. Mount Zine bietet jedes halbe Jahr ein neues Kaleidoskop aus Heften an. Ein Besuch.

Winter. Tokyo. Es ist ein lichter und warmer Tag. Ein junges Pärchen küsst sich auffällig in einem versteckten Park, eine Oma schlendert vorbei. Die Vögel zwitschern, von irgendwoher dringt geschäftiger Lärm von Handwerkern, und die kleine Straße, in die ich jetzt abbiege, ist kaum befahren und voll mit Topfpflanzen. Eine Vorstadtidylle.

In dieser Idylle liegt ein kleiner Laden mit liebevoll modernisierter japanischer Architektur. Dort findet man die von Indies gemachten Hefte. „Zines“, so nennt man diese Hefte, selbstverständlich ohne ISBN. Das ehemalige Wohnhaus beherbergt Unmengen davon, dass es einen wundern lässt, wie groß die Gemeinschaft der Zine-Macher in Japan ist. In dem kleinen, etwa 15 qm großen Ausstellungsraum befinden sich sicher über 70 Exemplare. Die Auslage wechselt jedes halbe Jahr. Das hat seinen Grund, denn zweimal im Jahr finden Workshops statt, in denen man mit erfahrenen Zineisten zusammen seine eigenen Zines erstellen kann. Anlässlich jedes Zyklus gibt es dann auch eine Party und wöchentlich wechselnde Ausstellungen ausgewählter Hefte, oft ist der/die Macher*in anwesend.

Die Hefte kosten unterschiedlich viel, meistens aber um 700 Yen (etwa 5-6 Euro). Weil sie von Hand gebunden werden, ist die Auflage niemals hoch. Zines, die einst als Amateur-Fan-Magazine starteten, haben sich emanzipiert. Sie sind an der Wand in Reihe aufgehängt oder liegen aufgeräumt auf Tischen unter dem hohen Balkengewölbe des Ladens. Kein Zine ist hinter einem anderen versteckt.

MOUNT ZINE
in Meguro, Tokyo

Vom Schreibtisch in die Galerie

Schon beinahe vier Jahre trägt Mount Zine, einer von zwei Zine-Läden in Tokyo, dazu bei, Publikationswilligen ein Forum zu bieten und diese bunten, spröden, fröhlichen und ungewöhnlichen Geschichten zu sammeln. Dementsprechend groß ist die Bandbreite der Hefte: Hier publiziert der Opa, über den Firmenchef bis zur jungen Studentin. „Natürlich sind auch viele Designer, Illustratoren und Fotografen dabei, aber wir sind ein wenig stolz darauf, es hinbekommen zu haben, dass auch ganz normale Leute zu uns kommen“, sagt mir die Besitzerin Yukari Ohtsu, die an diesem sonnigen Tag mit mir plaudert und dabei gleich noch andere Kunden mit ins Gespräch zieht.

Aus dem Kabinett der wunderbaren Zines

Eigentlich aus einer Subkulturnische, aus der Science-Fiction-Szene, geboren und oft mit subversiven Tönen von Gegenkulturen, sind Zines heute offenbar auf dem Vormarsch. Natürlich ohne Subversion. Selbst Kanye West hat ein Zine namens YEEZY herausgegeben (Original-Tweet nicht mehr abrufbar), Gucci auch und Magazine widmen der Geschichte der Zines ganze Artikel.

Zines sind persönlich. Ich frage Yukari, ob sie mir ein paar Hefte zeigen kann, die ihr am weirdesten erscheinen. Ein wenig Zögern. Es gibt einfach zu viele Zines für diese Frage. Wir stehen vor dem Regal. Sie fummelt ein bisschen rum und zeigt mir schließlich das Heft einer Studentin, die sechs Monate eine Gitarre baute – ohne jemals Gitarre gespielt zu haben. Dear Barnaby heißt das Heft, und Barnaby, ein enger Freund der Autorin, ist der Gitarrenbauer, der ihr dabei half. Die Gitarre stehe immer noch bei ihr zu Hause rum, sagt mir Yukari lachend.

Yukari drückt mir gleich ein weiteres Heft in die Hand. Ein anderer Herausgeber hat sich minutiös mit sogenannten Sentos befasst. Das sind öffentliche Bäder, die künstlich aufgeheizt werden, im Gegensatz zu natürlichen vulkanischen Thermen, Onsen genannt. Sentos sind geflieste Riesenbäder, in denen sich Japaner rasieren, die Nägel abknipsen, gründlich waschen und dann im heißen Wasser entspannen. Autor und Sento-Liebhaber Takuro Hasegawa hat sich zur Aufgabe gemacht, alle Sentos in Tokyo zu besuchen. Daran hat er noch gleich einen dreiwöchigen Fußmarsch angeschlossen und dabei auch alle auf dem Weg gelegenen Sentos besucht. „Das verkauft sich besonders gut an Männer. Warum, weiß ich allerdings auch nicht.“

Zuerst Instagram, dann Zines draus machen

„Das könnte auch interessant sein“, glitzert mir Yukari entgegen. Dieses Zine sei von dem Firmenchef einer bekannten Designagentur, die auch Marktrecherchen durchführe, meint sie. Der Autor des Zines hat sich mit den spezifischen Kennzeichen von Jugendkultur in Japan beschäftigt und so was wie einen kleinen Katalog geschaffen. Yukari: „Schau mal, wie gut der zeichnen kann. Unglaublich, oder?“

Ob das Zine, das sie mir zeigt, Tokyo Ethnography, selbstreflektierend ist oder der Autor sein Hobby zum Trend erklären möchte, weiß ich nicht. In dem Zine kommen jedenfalls junge Erwachsene vor, die gerne Zines lesen, machen, kaufen. So heißt es zu den Gravityless Pinners, die es auf das Titelbild geschafft haben, dass Zines eine Verlängerung von Social Media seien, geschaffen von jenen jungen Menschen, die es gewöhnt sind, ihre Eindrücke zu pinnen. Ein Zine sei etwas, das man in die Hand nehmen könne. Und es sei etwas, das nur in der Jugendkultur überlebe.

Ein Zine ist mit anderen Worten ein entschlackter und kuratierter Feed, eben eine komprimierte Aussage. Zines sind weniger geschwätzig als Instagram und ermöglichen genauso wie Social Media einen persönlichen Kontakt. Nebenbei erklärt uns das Zine Tokyo Ethnography übrigens, warum junge Leute mit diesem Medium per du sind: Diese Generation sei willens und auch dazu imstande, sich selbst zu produzieren. Sie seien Kinder ihrer Zeit. Man kann das weiterdenken. Zines sind dann nichts anderes als die Geburtsstunde von Instagram, wenn man die einfachen Publikationsmöglichkeiten und den Gemeinschaftsgedanken in Vordergrund stellt. Sie bieten das, was Instagram immer fehlen wird: Die Facebook-App bleibt für manchen anonym, vereinzelt und beizeiten sogar beliebig, zusammenhanglos. Die Hefte sind also die Ergänzung zu Instagram, und dort, wo sie physischen Kontakt mit Gleichgesinnten ermöglichen, sogar ein Medium, das Instagram ausboten kann.

„Wer nichts wird, ist weird“, dieser Spur folge ich in der Serie der Komplizen. Oder ist doch unversehens jemand etwas geworden, von dem man vorher eben keinen Begriff hatte? Ich bitte Grassroots-Netzwerke und Mini-Gatekeeper, uns ihre ungewöhnlichsten, bizarrsten und wunderbarsten Geschichten zu erzählen.

„1988 / 2018“

Aber fast zum Gegenbeweis zeigt mir Yukari als Nächstes das Journal eines älteren Fotografen, der in einem Abstand von haargenau 30 Jahren dieselbe Fototour gemacht hat: 1988/2018. Er hat dabei einheimische Leute befragt, was auf seinen Bildern von damals zu sehen ist, er war mit ihnen essen und hielt seine Recherchen wieder in Fotos fest. Entstanden ist so ein Porträt, in dem die Details Geschichten aus 30 Jahren erzählen.

Dazu sollte man vielleicht wissen, dass Japan 1988 mitten in einem von einer Spekulationsblase erzeugten Boom war. Schon die Vorjahre waren geprägt von einem guten Wirtschaftswachstum. Ende der 80er bis in die 90er Jahre setzte jene zeitweilige Hochkonjunktur ein – eine Immobilienblase, wie sich schon früh herausstellte –, die für diese Zeit und danach prägend sein sollte. Nachdem die Blase schließlich geplatzt war und das Geld futsch, kehrte in Japan schlagartig eine andere Stimmung ein. Von der dem Boom nachfolgenden Zeit, den 90ern und Nullerjahren des neuen Jahrtausends, spricht man als den „verlorenen 20 Jahren“, in denen es nur wenig Wirtschaftswachstum gab und Generationen damit aufwuchsen, kein gesichertes Einkommen mehr zu haben.

Szenen, die heute wie gestern aussehen: Bilder aus 30 Jahre Japan. Foto: Julia Shimura, Zine: Takefumiya

Die Fotos des Fotografen erzählen auch diese Geschichte. Man sieht deutlich, dass die Gebäude sich kaum verändert haben. Auch heute sind ganze Landstriche noch so wie in der Bubble-Phase in Japan oder verwildern. Man kann genau das an den Details und an den Geschichten der Menschen ablesen.

Als ich den Laden verlasse, weiß ich nicht genau, wie viele Geschichten ich nicht gesehen habe. Nicht, dass es einen konkreten Anlass gegeben hätte, diese Hefte anzusehen. Aber ich bin doch glücklich, so viele verschiedene Geschichten, die sonst nicht erzählt würden, gesehen zu haben. Genauso wenig gibt es ja einen konkreten Anlass dafür, weird zu sein.

Die mobile Version verlassen