Days Tsai Ming liang
© Homegreen Films

„Days“ von Tsai Ming-Liang (Wettbewerb)

Wo Schmerzen sind, könnte auch Lust sein: In seinem neuesten Film „Days“ setzt Tsai Ming-Liang körperlichen Brüchen eine erregende Utopie entgegen.

Ein Mann, Kang, blickt durch eine Scheibe nach draußen – das ist der Beginn von Days, dem seit sieben Jahren ersten Spielfilm des taiwanesischen Regisseurs Tsai Ming-Liang. Durch die Bildkomposition verläuft ein Bruch, eine Störung:  Eine breite horizontale Linie, die Kante des Fensters, spiegelt sich im Glas. Sie zerteilt Kangs Körper an der Stirn – unterhalb liegt der Körper reglos in einem Velourssessel, Haut und Stoff farblich ineinander verschränkt, oberhalb spiegeln sich die Baumwipfel. Zunächst ist Regen zu hören, dann bewegen sich unter den Tropfen die Bäume, das Wasser rinnt die Scheibe herunter. Der Mann wird nass, und er wird es nicht.

rizi tsai ming-liang
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Kang, das ist der Schauspieler Lee Kang-Sheng. In den Filmen von Tsai ist sein Körper seit fast 30 Jahren ein Mittelpunkt: die nach vorne gereckten Schultern, der schleppende Gang (als würden die Gedanken vorausziehen und der Schritt nur widerwillig nachziehen müssen), der oftmals seitlich gestreckte Hals, eine tiefe Melancholie, die mehr aus der Anspannung der Stirn als aus den Augen spricht. Seit Rebels Of The Neon God (1992) ist Lee ein Drifter durch asiatische Großstädte (Taipei zumeist, aber auch Kuala Lumpur und nun in Days Bangkok). Ein Versehrter und Unbehauster geradezu transzendenten Ausmaßes, aber auch ein Begehrender und Begehrter, der in einem der schönsten gemeinsamen Filme, The Wayward Cloud (2005), folgerichtig Porn-Schauspieler wird. Welche Rolle seine Präsenz für Tsais Ästhetik besitzt, lässt sich am klarsten ermessen, wenn darin jegliches erzählerisches Moment fehlt: In der Walker-Reihe, einem bislang nicht abgeschlossenen Zyklus kürzerer, für unterschiedliche Installations- und Festival-Kontexte gedrehter Filme, konzentriert sich der Blick ausschließlich auf die Körperhaltung und Bewegung eines von Lee gespielten buddhistischen Mönchs. Wie zu Beginn von Days zieht sich durch diesen Körper aber auch oftmals ein Riss, ein Missklang, der sich ausbreitet.

Tsai Ming-Liang Berlinale Wettbewerb
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Unerträgliche Nackenschmerzen quälen Kang, gegen die auch Behandlungen mit elektronischen Dioden, Wärmeschocks und Akkupunktur nichts ausrichten können. Es sind Leiden diffusen Ursprungs, die zuerst in The River (1997) auftauchten und in späteren Werken in unterschiedlicher Gestalt präsent blieben. Handeln Tsais Filme von Schmerz, bleibt in Lee Kang-Shengs Körper auch jener vergangener Filme mit eingeschrieben und summiert sich.

Durch die Art, wie Linderung gesucht und manchmal auch gefunden werden kann, bleibt Tsai Ming-Liangs Kino eines der einzigartig utopischsten und freisten der letzten Jahrzehnte. In dieser Hinsicht kann man Days als seinen bislang schönsten und intimsten Film bezeichnen: Ein Treffen mit dem Sexworker Non (gespielt von Anong Houngheuangsy in seiner ersten Filmrolle), bei dem Kang massiert wird und die beiden Sex haben, wird zu einer zeitenthobenen Versenkung in Körper: das Berühren und Ausstreichen der Haut, die Bewegungen der Finger, die entlang des Rückens fahren, Schweiß, der sich glänzend entlang der Achseln sammelt und heruntertropft, das erwachende Flackern der Augen, Lees Stöhnen, zunächst noch Schmerz, bald schon Verlangen. Eine der innigsten und erregendsten Sexszenen, nicht nur der jüngeren Filmgeschichte.

Days Tsai Ming-Liang
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Glaubt man daran, dass Filme aufeinander reagieren, ohne unbedingt voneinander wissen zu müssen, dann ist Tsai Ming-Liangs Kino ein ästhetisches Gegenmodell zum DAU-Komplex (dieses Jahr ebenfalls im Wettbewerb der Berlinale vertreten), in dem ein in sich geschlossenes filmisches System alles vor und hinter der Kamera ausweglos determiniert. Wo heute ein Schmerz ist, zeigt Tsai, könnte bald auch etwas anderes entstehen.

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