Disney-Filme für das Jahr 2000: „Good Hot Stuff“ von Marco Siedelmann

Wo heute der Joker Jagd auf die Vollstrecker seiner Albträume macht, träumten früher Leute von Sex: In seinem Buch „Good Hot Stuff“ erzählt Marco Siedelmann von Jack Deveau, einem Pionier der schwulen Pornografie an der amerikanischen Ostküste, der für ein Jahrzehnt Ambition und Lust zu einer filmischen Utopie verband.

Ein junger Mann, ein Tourist, läuft durch eine Stadt, auf Plätzen, in Museen, durch Cafés. Neugierig, verloren, ohne Ziel. Er breitet eine Straßenkarte aus, und die aufgefalteten Teile des Papiers überschlagen sich im Wind – so gelangt er nirgends hin. Ein älterer Mann spricht ihn an, überredet, verführt ihn dazu, sich mit ihm in eine Bar zu setzen. Sie unterhalten sich, der Ältere empfiehlt ein Museum, das Musée Rodin, und will, dass der Jüngere mit zu ihm nach Hause kommt. Dieser entzieht sich, erst beiläufig, dann entschieden, schließlich läuft er davon. Ins Musée Rodin geht er am nächsten Tag dennoch. Vor einem dunklen Saal, aus dem im Hintergrund rotes Licht gleißt, stellt ein Wachmann ein Schild auf: Eintritt verboten, private Kollektion. So entsteht Lust, so entsteht Begehren – nachts schleicht der junge Mann in den verbotenen Raum zurück. Zuerst erwachen die männlichen Statuen durch seinen Blick zum Leben, später erwidern sie den Gefallen und erwecken, befriedigen das körperliche Verlangen des Mannes. Am nächsten Morgen ist er selbst eine dieser Figuren geworden: Vielleicht ist das ein Preis, den er für das Eindringen zahlen muss, vielleicht ist es auch eine Belohnung.

© Éditions Moustache

Strictly Forbidden heißt dieser Film, eines von über einem Dutzend pornografischen Meisterwerken, die der schwule Filmemacher Jack Deveau für seine New Yorker Produktionsfirma Hand In Hand Films drehte. In dem von Marco Siedelmann herausgegebenen englischsprachigen Buch über Jack Deveau, Good Hot Stuff, sind die erschwerten Bedingungen, unter denen der Film Mitte der 70er-Jahre entstehen musste, ein immer wiederkehrendes Thema.

Unterschiedliche Perspektiven und Jahrzehnte später geborgene Erinnerungen der Beteiligten fügen sich zusammen: In Paris mit amerikanischen Schauspielern gedreht, ist der Film eine Fantasie, wie schwules Begehren in den öffentlichen Raum dringen kann. Unter einem Vorwand können Szenen im traditionsbewussten Museum gedreht werden, die später mit Hardcore-Material aus einem zum Museumssaal umfunktionierten schwulen Nachtclub verbunden werden. Deveaus Team gerät in einen finanziellen Konflikt mit dem französischen Produzenten und flüchtet schließlich mit dem greifbaren Material eines fertiggestellten Workprints. Aus diesem Fragment entsteht der Film, das restliche Material arrangieren die französischen Geldgeber zu einem eigenen Streifen – unter solchen Bedingungen entsteht die Pornografie dieser Zeit.

Jack Deveau auf einem Festival in Paris (© Éditions Moustache)

In einem von Gary Vanisian geführten, sehr aufschlussreichen Interview erzählt François About, der Kameramann des Films, aber auch von der beruflichen Ächtung, die ihm in Frankreich durch renommierte, vermeintlich libertine Filmemacher wie Philippe Garrel und Maurice Pialat widerfährt, als seine Beteiligung an schwuler Pornografie öffentlich wird.

Für Jack Deveau ist die Pariser Episode nur ein kurzes internationales Gastspiel, wenngleich ein einschneidendes und prägendes auf dem kommerziellen Höhepunkt des pornografischen Films in den 70er-Jahren. Anhand von Interviews, zeitgenössischem Presse- und Werbematerial sowie privaten Archivfotos erzählt Marco Siedelmann die Geschichte dieses Pioniers der schwulen Pornografie an der amerikanischen Ostküste: Als Grafikdesigner aus vermögendem Hause, ein in der New Yorker Underground- und Kunstszene bestens vernetzter Charmeur mit geradezu magnetischer Anziehungskraft, besitzt Jack Deveau autodidaktisches filmisches Talent und unternehmerische Erfahrung: Seine ästhetische Vorstellung von so ambitioniertem wie lustvollem Porn verwirklicht er ebenso sehr wie die Etablierung einer eigenen Produktionsfirma.

Privater Schnappschuss am Filmset (© Éditions Moustache)

Gegründet wird Hand In Hand Films auch, um sich dem Zugriff durch etablierte Produzenten, Verleiher und Entrepreneurs zu entziehen, die in Gay Porn ein neues Marktsegment wittern und sich von außerhalb der Community aggressiv ins Geschäft zu drücken beginnen: „They appeared on the gay porn scene like the Huns descending on Rome. They were truly barbarians at the gate, and the gay porn community had no choice but to submit to their occupation“, erzählt in Good Hot Stuff der Filmemacher Frank Ross, der in den frühen 70ern als Produktionsassistent und Standbildfotograf bei Hand In Hand begann. „In New York, at least, Hand In Hand Films was the first gay-owned studio, and that’s when gay directors started to be treated fairly.“ Zusammen mit seinem Lebensgefährten und kreativen Partner Robert Alvarez etabliert Jack Deveau für die gemeinsame Produktionsfirma auch ein eigenes, amerikaweites Verleihsystem, indem er 16mm-Kopien seiner Filme nicht einmalig an die Spielorte verkauft, sondern lediglich zeitlich begrenzt verleiht.

Kino-Release von „Left-Handed“ im ehrwürdigen Carnegie Hall Cinema
(© Éditions Moustache)

Obwohl Hand In Hand Films somit beginnt, für einen größeren nationalen Markt zu produzieren, und schnell über den Circuit der New Yorker Kinos hinauswächst, bleiben die Themen und Motive der Filme lokal: Insbesondere in den Anfangsjahren speisen sich die Storys von Deveaus Filmen und Produktionen aus unmittelbaren Erfahrungen und Beziehungen in der schwulen Szene von New York. Mitunter besitzen sie durch die Auswahl von Settings und Amateurschauspielern geradezu dokumentarischen Charakter. Left-Handed beispielsweise erzählt von den sich mählich entwickelnden und wieder abstoßenden erotischen Anziehungskräften zwischen einem Aussteiger und Dealer aus dem New Yorker Umland und einem Strichjungen an der 42nd Street. Ein Spannungs- und Beziehungsfeld zwischen der ländlichen Existenz eines in einer heterosexuellen Beziehung lebenden closeted gay und den Vernetzungsmöglichkeiten der Stadt. „We wanted to make that clear that it was New York City the story takes in. We showed buildings and subways, places where gay people cruise or have sex […] We wanted to illustrate what was going on socially and sexually“, so Robert Alvarez im Interview mit Marco Siedelmann. „Most of the sex in the Hand In Hand movies is almost like documentary filming. You cannot really direct people to be sexually hot, you know? They have to have that in them. And they had to be caught up with it. That’s how we built the scenes.“

Robert Alvarez (© Éditions Moustache)

In schier unerschöpflichem Archivmaterial dokumentiert Good Hot Stuff die ausführlichen Fragebögen für Schauspieler, in denen diese über sexuelle Wünsche und Präferenzen sprechen. Auf Setfotos ist manchmal Deveau selber mit der geschulterten Kamera zu sehen, unmittelbar vor den Darstellern kniend, in einen Sessel gekauert, um nahe am Geschehen, aber nicht im Weg zu sein. Spontaneität und unmittelbare Reaktion auf den Moment sind ebenso Bestandteil seiner Filme wie für das Genre der Zeit ungewöhnlich hohe und sorgfältige Produktionsstandards, mit denen Deveau hoffte, ein breiteres Publikum erreichen zu können: „Our mutual agreement was trying to make these films reflect something that had to do with real life. Use them as a model for maybe later on getting into making a film that would reach a mass market, rather than a specialized market like pornography, or gay-themed films. Our goal was to make real movies eventually“, resümiert Alvarez die Ambitionen Jahrzehnte später.

Jack Deveau hinter der Kamera (© Éditions Moustache)

Offene Beziehungen, Cruising, Sexbekanntschaften, spontaner Sex in random places: In einem der schönsten Hand-in-Hand-Releases, dem Kurzfilm Underground aus dem Kompilationswerk The Erotic Films Of Peter de Rome, laufen zwei Männer nachts durch eine fahrende U-Bahn, bis sie eine ungestörte Stelle finden, an der sie Sex haben können.  Diese Strecke fährt die Bahn in New York immer noch, die Waggons sind seit den 70er-Jahren eh dieselben. Lauert in ihnen immer noch das heimliche Versprechen auf anonymen Sex in stiller, plötzlicher Übereinkunft? Oder sind sie heute nur noch als der Ort vorstellbar, an dem der Joker, die Hauptfigur aus Todd Phillips’ Film, Jagd macht auf die Vollstrecker seiner Albträume?

Jack Deveau bei der Schauspielführung (© Éditions Moustache)

„Our films are live Disney movies, if we hold them out of circulation for five to six years, they’re Pinocchio all over again – playing to a brand-new audience“, wird Jack Deveau am Ende des Buchs zitiert. „The number of people interested in porno is probably fixed in relation to the population. This is literature of a kind – I don’t know how it’s recognized today, but we’ve created a large body of it – maybe it’s the Mickey Mouse of the year 2000!“ Im Zuge des Porn Chic der 70er-Jahre, als sich bürgerliche Kultur und Medien zeitweise für Pornografie und dessen potenziell nicht normativen und mitunter subkulturellen Ausdrucks- und Darstellungsformen von Sexualität öffneten, schien diese Utopie einer nicht allzu fernen, besseren Zukunft für einen Moment erträumenswert. Heute haben die Filme von Hand In Hand ihre frühere Sichtbar- und Verfügbarkeit weitestgehend wieder eingebüßt – und damit ist das Lebenswerk eines Visionärs und genialen Filmemachers, eines der besten und aufregendsten des 20. Jahrhunderts, davon bedroht, in Vergessenheit zu geraten. Good Hot Stuff, als Buch selbst ein cinephiles Traumprojekt, das sich in wunderbar ausschweifendem Umfang und intimer Kenntnis seinem Gegenstand auf Augenhöhe stellt, stemmt sich dagegen mit aller Leidenschaft, die ein solches filmisches Werk in einem entfachen kann.

„Good Hot Stuff. The Life and Times Of Gay Film Pioneer Jack Deveau“. Marco Siedelmann (Hsrg.). Éditions Moustache 2019. 588 Seiten.

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